Besitz als Medium der Gewohnheit. Zur politischen Anthropologie des Eigentums im 19. Jahrhundert

Projektbeschreibung
Dieser Frage wollen wir anhand staats-, ökonomie- und sozialwissenschaftlicher wie auch sozialpolitischer Diskurse nachgehen. Dabei fokussieren wir Theoretisierungen der Gewohnheitsbildung und Sozialisation, insbesondere solche der Charakterformierung des Individuums in Relation zur Ausdifferenzierung der Verbindung von Besitz und Gewohnheit im Feld der Konsumgüter und der damit einhergehenden Konsumbedürfnisse. Es scheint, dass sich der Besitzindividualismus hier vom Modell des Grundeigentums lösen und zu einem klassenübergreifenden Subjektivierungsmodell werden konnte, im Rahmen dessen sich Besitz und Konsum gouvernementalitätshistorisch als Garanten von Freiheit und gesellschaftlicher Teilhabe verbanden. Oder als Frage formuliert: Wie gelang es dem Besitzindividualismus, sich von einem exklusiven Modell des privilegierten Herrschaftsanspruchs einer grundbesitzenden (frühbürgerlichen) Klasse in ein offenes Modell der sozialen Integration in eine Industriegesellschaft von Konsument:innen zu transformieren? Wir vermuten, dass im Zuge der sozialökologischen Transformation von der Knappheits- zur Wachstumsökonomie (mit zunehmender Markintegration und Warenzirkulation) neue Infrastrukturen über einen minimalen Lebensstandard die Möglichkeit der Selbstzivilisierung auch jenseits von Grundeigentum plausibel erscheinen ließen. Fiel Grundeigentum als postulierte Voraussetzung der Entwicklung guter Angewohnheiten aus, traten andere Güter an seine Stelle, deren Besitz und Konsum nun jedoch nurmehr als Anzeige von Tugendhaftigkeit fungierten. Wir vermuten, dass es sich bei Konsum als Anzeige von Leistung um eine kommunikative Selbstbeschreibung handelt, dass bürgerliche Tugenden (und damit bürgerliche Teilhabe) mithin im Medium des Konsums prozessiert werden. Erscheint Besitz dementsprechend als Medium der Habitus- und der Charakterbildung, kann sich die alte, besitzindividualistische Verbindung von Eigentum und individueller Freiheit auch unter den veränderten Bedingungen erhalten: aus der Freiheit von Naturzwängen wird die Freiheit zum Konsum. Diese Bewegung analysieren wir als einen Strukturwandel des Besitzindividualismus, im Rahmen dessen dieser in der liberalen Verschränkung von Individuum, Privateigentum und Freiheit jedoch eine paradoxale Form annimmt: Er besteht als sozialintegratives (politisches) Subjektivierungsmodell fort, das sich in erheblich gesteigertem Ausmaß als von Gemeingütern und staatlicher Intervention abhängig erweist, wobei die realen Eigentumsverhältnisse an Grundbesitz und industriellen Produktionsmitteln zunehmend invisibilisiert werden und ihre politisch-semiotische Zentralstellung für das, was gesellschaftlich als Privatbesitz gilt, verlieren. Für unsere Analyse dieses für die Geschichte liberaler Theoriebildung zentralen, jedoch von der politischen Ideengeschichte weitgehend unbeachteten, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Entwicklungszusammenhangs blicken wir durch das Brennglas der sogenannten „Frauenfrage“ und des Selbstverständnisses von Konsumgenossenschaften und entwickeln eine geschlechter- und klassenspezifische Sozialtypologie des Besitzindividualismus des 19. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt auf der für die anderen westeuropäischen Staaten prägenden englischen Entwicklung. Mit der Aufstellung eines Ensembles von exemplarischen Figuren vom Nomaden über den Siedler bis zur Arbeiterfrau und der bürgerlichen Ehefrau spannen wir das heuristische Feld auf, um der Forschungsfrage nachzugehen, wie sich die Sozialintegration der zuvor vom Eigentumsrecht ausgenommenen Teile der Bevölkerung wissens-, ideen-, und kulturgeschichtlich vollzieht und entlang welcher Parameter und in welcher Rasterung des sozialen Feldes die neuen Ausschlusslinien verlaufen, die so entstehen.
Projektaktivitäten
Veröffentlichungen
- Bernhard Kleeberg, Anna Möllers und Dirk Schuck (Hrsg.) (2024): Nomad Properties. Political Anthropologies of Nomadism from the 18th Century until Today, Campus, Frankfurt Main/Chicago, (i. E.).
- Schuck, Dirk (2024): „Agriculture, Property and Habits. A Comparison of Adam Smith and James C. Scott", in: Kleeberg et. al.: Nomad Properties. Political Anthropologies of Nomadism from the 18th Century until Today, Campus, Frankfurt Main/Chicago, (i. E.).
- Schuck, Dirk (2024): „Letters from an American Farmer: An Eighteenth Century Agrarian Utopia?", in: Bianchi Mancini et. al.: Relating to Landed Property, Campus, Ffm/Chicago.
- Schuck, D.; Bianchi Mancini, S.; Gibson, H.; Vizent, M. (2024): Relating to Landed Property. Frankfurt am Main und Chicago: Campus.
- Schuck, D. (2024): „Liberalism“, in: Cary Nederman, Guillaume Bogiaris (Hrsg): Research Handbook on the History of Political Thought, Elgar: Cheltenham, 134-142. 10.4337/9781800373808.00021
- Schuck, D. & Pecchi, L. (2024): „Cultivating a Capability for Empathy in the Bologna System: The Shortcomings of Economics and the Importance of the Civil“, In: Journal of Philosophy of Education, 58 (1), 1–23. 10.1093/jopedu/qhae001
- Schuck, D. (2023): „First-order compassion and second-order compassion One central difference in the social thought of David Hume and Adam Smith regarding the installment of social stability”, in The Adam Smith Review 13, Routledge: London. 10.4324/9781003359395-7
- Schuck, Dirk (2023): „Zur Genese individueller Selbständigkeit bei John Locke", in: D. Sölch, M. E. Bähr (Hrsg.): Geschichte und Gegenwart der Erziehungsphilosophie, Heidelberg u. Berlin: J. B. Metzler (Springer Verlagsgruppe), 10.1007/978-3-662-67561-8_3.
- Möllers, Anna (2023): „The figure of the ‘savage’ and landed property in colonial contexts“, Teil V der Blog-Reihe „Verfügung über Dinge: Historische und aktuelle Perspektiven des Eigentums im Wandel“, in: Blog des Sonderforschungsbereichs „Strukturwandel des Eigentums“. (veröffentlicht am 02.10.2023)
- Mulsow, Martin (2022): Überreichweiten. Perspektiven einer globalen Ideengeschichte. Berlin: Suhrkamp.
- Kleeberg, Bernhard (2020): „Factual Narrative in Economics“, in: M. Fludernik; M.-L. Ryan (Hrsg.): Narrative Factuality. A Handbook. De Gruyter, 379-389.
Vorträge (Auswahl)
- 27.06.2024, Centre Marc Bloch, HU Berlin, Konsum und Habitus. Zur Genealogie eines Konsumtionsmodells der Freiheit im 19. Jahrhundert (Dirk Schuck).
- 02.05.2024, Tagung „Ästhetik des Eigentums" der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturtheorie und Semiotik, Universität Lausanne, Charakterbildung und Eigentum (Dirk Schuck).
- 24.04.2024, Ringvorlesung „10-Minuten-Soziologie", Universität Passau, Besitz als Medium der Gewohnheit. Die Entstehung einer bürgerlichen Eigentumsordnung im 19. Jahrhundert (Dirk Schuck).
- 13.04.2024, Tagung „Prekärer Konsum", Universität Würzburg, Autosuggestion. Zur Frühgeschichte der Werbepsychologie (Bernhard Kleeberg).
- 12.04.2024, Tagung „Prekärer Konsum", Universität Würzburg, Prekärer Konsum als Signalisierung von Geschlechterrollen am Beispiel der Waschfrauen von Glasgow im 18. Jahrhundert (Dirk Schuck).
- 02.11.2023, Forschungszentrum Gotha (Studientage: An der Peripherie? Europäische Autorinnen der Frühen Neuzeit bis heute), Mary Wollstonecraft und der Kanon (Dirk Schuck).
- 02.11.2023, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademievorlesung, Aufklärung und Geisteswissenschaften im Angesicht der Klimakrise (Martin Mulsow).
- 02.09.2023, Universität Mainz (Konferenz: The Reception of John Locke in the German Enlightenment, 31.-2.9. 2023), Die Funktion sozialer Anerkennung in Lockes Erziehungstheorie und deren deutsche Rezeption (Dirk Schuck).
- 21.07.2023, University of St. Andrews (Konferenz: Smith, Ferguson, and Witherspoon at 300, 18.-21. 7. 2023), Adam Smith’s replacement of the moral sense by the impartial spectator (Dirk Schuck).
- 05.07.2023, ISECS Konferenz, Rom, Republican Themes in the Artworks of William Hogarth (Dirk Schuck)
- 30.06.2023, Workshop „Das Klima der Philosophie. Ökologische Ideengeschichte als Herausforderung“, Forschungszentrum Gotha, Zur ökologischen Sensibilisierung der Ideengeschichte am Beispiel der Querelle um den Luxus im 18. Jahrhundert (Martin Mulsow & Dirk Schuck).
- 12.07.2022, Universidad de los Andes, Bogotá (online): Moral Sense and Habit in Adam Smith, Mary Wollstonecraft and Sophie De Grouchy (Dirk Schuck).
- 01.07.2022 Tagung zu “Nomad Properties”, Fearing the unsettled. Portrayals of Nomadism in 19th century politi-cal Anthropology, Erfurt. (Anna Möllers).
- 01.07.2022, “Nomad properties: Introduction”, Workshop „Nomad Properties. Political Anthropologies of Nomadism from the 18th Century until Today”, University of Erfurt, organ. by Project A03 Property and habit (D. Schuck, A. Möllers und B. Kleeberg), Collaborative Research Centre TRR 294 “Structural Change of Property”, June 30 to July 2, 2022 (Bernhard Kleeberg).
- 30.06.2022, Projektvorstellung und Input, "Erfurter Forum Asphaltnomaden“. Kulturprogramm zur Tagung Nomad Properties in der Frau Korte, 30. Juni 2022, Erfurt. Mit Vorträgen von Vertreterinnen und Vertretern nomadischer Initiativen und Zusammenschlüsse in Deutschland, begleitet von einer Wanderausstellung zu den Vagabundenkogressen, sowie einem thematischen Filmprogramm. Veranstaltet vom Teilprojekt A03 des SFB „Strukturwandel des Eigentums“ in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Bernhard Kleeberg).
- 24.06.2022, China in Europe Research Network, Online-Workshop “Narrating Europe and China in Times of Crisis”, Meritocracy and the Western Tradition (Dirk Schuck).
- 09.06.2022, Neudietendorf, SFB-AG1 Abschlussworkshop, The English Gentry as Virtuous Proprietor. The Emergence of Agrarian Capitalism and the Rise of Political Economy (Dirk Schuck).
- 24.08.2022 Eröffnungs-Keynote der Nordic 18th Century Conference, Kopenhagen, mit dem Thema “Rights and Wrongs”, Is Wealth Right Or Wrong? The Illuminati Order and Criminal Law Reform in Late 18th Century Germany (Martin Mulsow).
- 08.04.2022 Workshop „Naturrecht und Eigentum. Politische Anthropologie im Kontext des Kolonialismus“, Tagung des Teilprojekts A03 des SFB TRR 294 „Strukturwandel des Eigentums“ und des Forschungsnetzwerks „Natural Law 1625–1850“. Forschungszentrum Gotha, Vom Naturrecht zur politischen Psychologie. Wandlungen der Thematisierung von Eigentum im 19. Jahrhundert (Martin Mulsow).
- 08.04.2022, Forschungszentrum Gotha: Self-Possession in John Locke, the Levellers, St. John de Crevecoeur and Mary Wollstonecraft. The Pursuit of an Early Modern Personality Metaphor (Dirk Schuck).
- 08.4.2022 Tagung zu “Eigentum in Naturrecht und Anthropologie - im Kontext des Kolonialismus”, Herbert Spencer zu Eigentum, Anthropologie und Naturrecht, Gotha. (Anna Möllers).
- 18.01.2022, Universität Lissabon (Konferenz: Sympatheia/Einfühlung/Empathy: Understanding and Feeling Otherness, online), First- and Second-Order-Compassion in Adam Smith and David Hume (Dirk Schuck).
- 25.10.2021, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Online-Ringvorlesung „Philosophie der Erziehung“, Zur Genese individueller Selbständigkeit bei John Locke (Dirk Schuck).
- 15.10.2021, University of Madison (Wisc.), Konferenz der International Adam Smith Society, Agriculture, Property and Habits: A comparison of Adam Smith and James C. Scott (Dirk Schuck).
- 03.10.2021, Seattle, APSA Jahreskonferenz, Montesquieu’s Concern for the Inherent Danger of a State’s Despotism and his View on the Countervailing Forces against State Violence and the Outbreak of Violent Conflict (Dirk Schuck).
Veranstaltungen
- „Das Klima der Philosophie: Die ökologische Krise als Herausforderung für die Philosophie- und Ideengeschichte“, Workshop, mitorganisiert von Martin Mulsow, mit einem Beitrag von Dirk Schuck, 13.-15.11.2024, Bergische Univerisität Wuppertal.
- „Kolonialisms und Konsum II“, Workshop TP A03 des SFB „Strukturwandel des Eigentums“ zus. mit dem Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der Uni Wien (Anna Echterhölter), 26.2.2024, Uni Erfurt.
- „Kolonialisms und Konsum. Natur und Eigentumsökonomien im 19. und 20. Jh.”, Workshop des Teilprojekts A03 des SFB „Strukturwandel des Eigentums“ zus. mit dem Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der Uni Wien (Anna Echterhölter), 8.12.2023, Universität Erfurt.
- The Ancient Critique of Luxury and the Birth of Early Modern Political Economy, Panel auf der Konferenz der International Society for Eighteenth-Century Studies (ISECS), Sapientia Universität Rom, 3.-7. 7. 2023 (Dirk Schuck in Kooperation mit Adriana Luna-Fabritius). (05.07.2023)
- Workshop „Das Klima der Philosophie. Ökologische Ideengeschichte als Herausforderung“, Forschungszentrum Gotha, Konsequenzen der Klimakrise. Aufklärung, Anthropozän und der neue Anthropomorphismus. (30.06.2023)
- Wissenschaftliche Tagung „Nomad Properties. Political Anthropologies of Nomadism from the 18th Century until Today“ mit einer Keynote von Elena Marushiakova und Veselin Popov (University of St. Andrews) und weiteren Beiträgen. (30.06. - 02.07.22)
- Tagung „Naturrecht und Eigentum. Politische Anthropologie im Kontext des Kolonialismus“ in Kooperation mit dem Forschungsnetzwerk „Natural Law 1625-1850“. (08.04.2022)